Ein Bild von Lydia
Pressebild Lukas Hartmann copyright Bernard van Dierendonck Web 72dpi
Lukas Hartmann, Schriftsteller, Foto in seinem Garten, in Spiegel bei Bern.
Foto: © Bernard van Dierendonck
  1. Lukas Hartmann, wann haben Sie das erste Mal von der Geschichte von Lydia Welti-Escher und Karl Stauffer-Bern gehört?
    Lukas Hartmann: Wahrscheinlich vor etwa dreißig Jahren, als ich eine Ausstellung mit Werken von Karl Stauffer-Bern besuchte; dieser Maler hatte mich durch seine Kunst der Porträtierung schon als Jugendlicher fasziniert. Ich erinnere mich, dass ich seine Radierungen von Gottfried Keller und C. F. Meyer, die in einem Kalender abgebildet waren, mit Bleistift zu kopieren versuchte, aber die Ausdruckskraft des Originals nie erreichte. Der Zusammenhang mit dem Hause Escher und mit Lydia wurde mir erst später klar.
  1. Was gab den Ausschlag, dass Sie einen Roman darüber schreiben wollten?
    Lukas Hartmann: Im Lauf der Zeit kamen, wie in einem Puzzle, immer mehr Teile von Lydias Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichte zusammen, die sie mit ihrem Mann, Emil Welti, und ihrem Liebhaber, dem Maler Stauffer, verband. Dahinter stand stets auch die übermächtige Figur ihres Vaters, dem sie, nach dem frühen Tod der Mutter, in vielen Funktionen gedient hatte, als Schreibkraft, als Gesellschafterin, sogar als Ratgeberin.
  1. Was war Lydia für eine Frau?
    Lukas Hartmann: Eine mit vielen Gesichtern. Sie sieht auf jedem Porträt, auch auf jeder Fotografie anders aus. Sie war intellektuell und musisch hochbegabt, musste sich aber zunächst der Konvention des späten neunzehnten Jahrhunderts beugen, die für sie im Wesentlichen die Hausfrauenrolle vorsah, bis sie mit ihrer Liebschaft ausbrach. Sie suchte die Unabhängigkeit, verstrickte sich aber immer mehr in Abhängigkeiten. Sie war in guten Phasen lebensfroh, sogar übermütig, dann aber immer wieder depressiv, verschlossen, bis zur finalen Verfinsterung.
  1. Sie erzählen Lydias Geschichte aus der Perspektive ihres Kammermädchens Luise – ist diese Figur Ihre Erfindung?
    Lukas Hartmann: Nein, Luise, eigentlich Marie-Louise Gaugler, ist in mehreren Dokumenten verzeichnet, die ich im Staatsarchiv von Genf gefunden habe, sie ist zudem in Lydias Testament erwähnt. Auch in der materialreichen Biographie von Joseph Jung kommt sie vor.
  1. Was hat Sie an dieser Perspektive gereizt?
    Lukas Hartmann: Zunächst der gesellschaftliche Abstand zwischen den beiden Frauen. Lydia Escher wuchs im Belvoir, einer Villa in Zürich-Enge, im Luxus auf, als Tochter eines der mächtigsten Schweizer jener Zeit, des Bahn- und Bankenpioniers Alfred Escher. Luise Gaugler hingegen verbrachte ihre ärmliche Kindheit in Bergamo, dahin war ihr Vater, ein Zürcher Tuchweber, ausgewandert. Nach seinem Unfalltod musste ihre mittellose Mutter mit einer Schar Kinder zu Fuß ins Zürcher Oberland zurück. Eine Verwandte empfahl Luise als Kammermädchen bei der reichen Erbin Lydia Escher im Belvoir. Mich interessierte, wie sich die beiden Frauen allmählich annäherten und miteinander vertrauter wurden. Ich wollte schreibend herausfinden, was sie beieinander fanden, und an Luises Sicht reizte mich, wie sie am Anfang die Verhältnisse im Belvoir nur halb durchschaut, dann in Florenz immer besser versteht, wie sehr Lydia in der Affäre mit Stauffer sich selber sucht und zuletzt in Champel, Genf, wohin ihr geschiedener Mann sie verbannt, den Lebenswillen verliert.
  1. Wenn man Ihren Roman Ein Bild von Lydia liest, dann merkt man, dass im Kern nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern in Wahrheit eine Dreiecksgeschichte steht: der Maler Stauffer, Lydia – und ihr Mann Emil Welti, der mit Stauffer seit der Kindheit befreundet war. Welti gibt viele Rätsel auf. Wie schätzen sie ihn und seine Rolle ein?
    Lukas Hartmann: Er blieb, glaube ich, lebenslänglich von seinem Vater, dem gleichnamigen Bundesrat, abhängig, fand in dessen Schatten nur schwer eine eigene Bedeutung und wollte vielleicht auch darum, die Tochter des anderen Mächtigen im jungen Bundesstaat, Alfred Eschers, nach seinem Willen formen. Dagegen lehnte sich Lydia auf, obwohl sie dann, als ihre Affäre so unglücklich endete, wiederum Schutz bei ihm suchte. Weltis Flucht von Zürich nach Florenz war auch eine vor dem Klatsch der Haute Volée, es war ebenso der hilflose Versuch, seine kunstbegeisterte Frau für sich zu haben; zugleich lieferte er sie dem vermeintlichen Freund Stauffer aus.
  1. Auf dem Cover des Romans ist ein Ausschnitt aus einem Lydia-Porträt von Karl Stauffer-Bern zu sehen. Was halten Sie von ihm als Maler? Haben Sie ein Lieblingsbild?
    Lukas Hartmann: Er war nach meiner Ansicht ein brillanter Zeichner und Radierer, seine Porträts sind eindringliche Charakterstudien. Menschen, gerade auch Akte, haben ihn mehr interessiert als Landschaften. Als Bildhauer, der er in Rom geradezu zwanghaft werden wollte, hat er sich jedoch nicht verwirklichen können. Eines meiner Lieblingsbilder ist die Radierung des sitzenden Gottfried Keller, der gedankenverloren mit seinem Taschentuch spielt. Ein weiser und schwermütiger Mann. Die berühmte Lydia im weißen Kleid ist zu sehr Inszenierung und Dekor, als dass dieses Porträt mich restlos überzeugt.
  1. Ihr Roman ist auch die tragische Geschichte einer Frau, die aus den Konventionen ihrer Zeit ausbrechen wollte und daran elend zugrunde ging – beziehungsweise von mächtigen Männern zerstört wurde. Könnte man sagen, dass Lydia Welti-Escher zur falschen Zeit geboren wurde?
    Lukas Hartmann: Ja, schon eine Generation später wäre sie, was das Geschlechterverhältnis betrifft, in andere Zeitströmungen hineingeraten. Wobei sich die Szenerie der einflussreichen Männer, die sich Frauen gefügig zu machen versuchen, ja in unseren Tagen auf skandalöse und skandalisierte Weise wiederholt. Es lag wohl auch an Lydias Prägung, dass ihr Aufbegehren in die Resignation führte und letztlich in den Suizid.

Leseprobe_Lukas Hartmann_Ein Bild von Lydia

© by Diogenes Verlag AG Zürich

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